Der halbe Schwung

Die Mitte Februar lancierte Dokuserie «Full Swing» holt dazu aus, den Golfsport von seiner emotionalsten Seite zu zeigen. Obwohl die Rahmenbedingungen dafür nicht besser sein könnten, gelingt ihr das nur bedingt.

TEXT: NINA TREML | FOTOS: GETTY IMAGES, COURTESY OF NETFLIX

«You’ve picked a hell of a year to start following the PGA Tour», richtet sich der englische Golfprofi Ian Poulter in einem Ausschnitt, der schon im Trailer zu sehen ist, an die Kamera. Tatsächlich hätten die Macher der überaus erfolgreichen Netflix-Serie «Drive to Survive» keinen besseren Zeitpunkt wählen können, um ihr «Docutainment »-Konzept von der Formel 1 auf den naturgemäss weniger actiongeladenen Golfsport zu übertragen: 2022, als die altehrwürdige PGA Tour plötzlich in Konkurrenz zur neuen, von Saudi-Arabien finanzierten LIV Series steht, geht es schliesslich nicht mehr nur um den Sieg oder die Niederlage einzelner Spieler.

Es geht um grosse Themen wie Tradition, Loyalität und Vermächtnis versus Fortschritt und Verjüngung. Um unvorstellbare Geldsummen und die Moral in Zusammenhang mit einem Journalistenmord, Menschenrechtsverletzungen und Sportswashing. Es geht um nichts weniger als die Zukunft einer gesamten Sportart. Da braucht es keine dröhnenden Motoren, keine in Flammen aufgehenden Boliden, keine von Fahrerhelmmikrofonen aufgeschnappten Schimpftiraden. Die ebenfalls schon im Trailer gezeigte Szene, in der Poulter auf die Frage nach einer allfälligen LIV-Teilnahme wortlos grinst, reicht, damit man sich umgehend vor den Fernseher schmeissen will – jetzt, sofort, mit einer grossen Packung Popcorn, und dass bitte ja keiner auf die Idee kommt, einen im Laufe der nächsten acht Folgen und 358 Spielminuten zu stören! Womit wir möglicherweise schon beim eigentlichen Problem wären: die Erwartungen waren verdammt hoch.

Besagte Anzahl Folgen und Spielminuten später sind die Gefühle gemischt. Ob die Produktionsfirma Box to Box mit ihrer Golf-Doku einen Volltreffer, quasi ein Hole-in-one landete? Eher nicht. Sollten sich diejenigen, die noch nicht dazu gekommen sind, die Serie trotzdem anschauen? Unbedingt! Den erhofften Blick hinter die Kulissen gewährt «Full Swing» allemal. Wie schon beim Vorbild «Drive to Survive» werden ausgewählte Sportler vom Neuling über den krisengeplagten Ex-Champion bis hin zum Höhenflieger von Kameras begleitet, um die menschlichen Dramen hinter den Ergebnissen zu beleuchten. Schade zwar, liess sich der prominenteste aller Golfer, Tiger Woods, nicht direkt vor die Kamera zerren – wir erleben seinen Mythos lediglich durch die Erzählungen anderer. Dafür erhalten wir Einblick in die komplizierte Beziehung zwischen den Freunden und Rivalen Jordan Spieth und Justin Thomas. Wir fiebern und leiden mit den Rookies Sahith Theegala und Mito Pereira bei ihrem harten Weg an die Spitze mit. Wir bewundern die Kompromisslosigkeit eines Collin Morikawa und stellen mit Genugtuung fest, dass auch der souveräne Rory McIlroy derb sein kann («F*** you, Phil», stösst er zwischen den Zähnen beim Krafttraining aus; gerichtet ist die Aussage an LIV-Aushängeschild Phil Mickelson). Bei dem mit Schicksalsschlägen und Selbstzweifeln ringenden Weltranglisten-Siebzigsten Joel Dahmen wird allzu durchschaubar auf die Tränendrüse gedrückt, während der Familienmensch Tony Finau zum Helden verkitscht wird. Trotzdem lassen wir uns auch von ihren Geschichten gerne einnehmen.

Schnelle Schnitte, spektakuläre Aufnahmen, etwa durch Drohnenflüge über die schottische Küste, Szenen aus Sportübertragungen und pointierte Kommentare und Erklärungen von Experten tun den Rest, um für Kurzweiligkeit zu sorgen. Nur, wo bleibt das unbändige Binge-Watching- Verlangen, für das wir die Produktionen von Netflix lieben und hassen gelernt haben? Weil jede Episode als in sich abgeschlossene Geschichte mit Fokus auf zwei Protagonisten daherkommt, fällt es nicht schwer, den Fernseher zwischendurch abzuschalten und die Serie ein paar Tage ruhen zu lassen. Nicht eben hilfreich ist dabei auch die nichtlineare Erzählweise ohne Rücksicht auf die Chronologie der Ereignisse. Nachdem wir die PGA Championship – wohlgemerkt weder das erste, noch wichtigste Major im Turnierkalender – in Folge eins schon mit Justin Thomas erlebt haben, kehren wir in Folge fünf noch einmal mit Matt Fitzpatrick und in Folge sieben auch noch mit Mito Pereira nach Tulsa zurück. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, denselben Event aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen. Einen Spannungsbogen über die gesamte Staffel hinweg zu erzeugen, gelingt den Machern damit aber nicht.

Vor allem kratzt «Full Swing» beim gross angekündigten Thema «PGA versus LIV» nur an der Oberfläche. Wenn schon zu Beginn der Serie von «Disruption», «Kräftemessen », «Kontroverse» und «existenzieller Bedrohung» die Rede ist, erwartet man nichts weniger als ein ausgewachsenes Drama. Oder dass die Beleuchtung der Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven zumindest überraschende Erkenntnisse und Denkanstösse liefert. Stattdessen präsentiert sich der Konflikt über acht Folgen hinweg als wirres Dauerthema, das nie auf den Punkt, geschweige denn zu einem Showdown kommt. Eine vertane Chance.

Zugutehalten kann man der Doku, dass sie trotz Fokus auf die PGA Tour keine offensichtliche Meinungsmache betreibt. Mit Ian Poulter, Brooks Koepka und Dustin Johnson erhalten prominente LIV-Überläufer die Gelegenheit, ihre Entscheidung in Ruhe zu begründen. Uns Zuschauenden bleibt selbst überlassen, ob wir Johnson dafür bewundern oder verachten sollen, dass er zu LIV wechselte, weil ihm die neue Serie mehr Geld für weniger Arbeit versprach. Und ob wir nachvollziehen können, dass Koepka nach jahrelanger Flaute auf der PGA Tour die Chance eines Neubeginns ergreift. Oder ob uns sein Lamento am Pool seiner Luxusvilla neben seiner Luxus-Ehefrau eher lächerlich erscheint.

Am Ende von «Full Swing» bleibt eine gewisse Ratlosigkeit, die auch daher rühren könnte, dass man sich nie so richtig angesprochen fühlt. An wen richtet sich die Serie? An leidenschaftliche Golfer, die schon immer mal wissen wollten, womit sich die Buddies Spieth und Thomas in ihrem Privatjet beschäftigen? (Spoiler Alert: Sie putten.) Oder eher an «Drive to Survive»-Fans, die nach der unverhofften Entdeckung ihrer Rennsportbegeisterung auch offen für die vermeintlich langweilige Sportart Golf sind? Falls die Plattform Netflix einen ähnlich grossen Popularitätsschub wie bei ihrer Formel- 1-Serie anvisiert, so resümiert die britische Zeitung «The Guardian» recht umständlich, dann «versagt sie schon beim Abschlag, landet den Ball in einem Teich, versucht darauf, ihre Hose hochzukrempeln und den Ball wieder aus dem Wasser zu schlagen, fällt selbst hinein, gerät in Not, muss von einem Kampfschwimmer gerettet werden, holt sich die Infektionskrankheit Morbus Weil, erleidet massives Organversagen und stirbt einen schrecklichen Tod, gestützt auf eine unbequeme Chintzstoff-Sitzbank im Clubhaus, während ihr ein dickbebrillter Verkäufer die Verbrauchsvorteile eines Audis entgegenschreit».

Vielleicht ist es dann aber doch nicht so kompliziert. Vielleicht sollten wir uns damit zufriedengeben, dass wir nach monatelanger Vorfreude und 358 Minuten vor dem Bildschirm weder besonders viel schlauer sind, noch unsere Meinung über Dinge und Personen ändern konnten, sondern einfach nur gut unterhalten wurden. Gut genug jedenfalls, um uns in einem Jahr schon am Veröffentlichungstag der ja wohl hoffentlich geplanten zweiten Staffel vor den Fernseher schmeissen zu wollen – jetzt, sofort, mit einer grossen Packung Popcorn und etwas realistischeren Erwartungen, die dann auch nicht enttäuscht werden.

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