Seit Juni ist der Zürcher Kreis 5 ein Golfplatz der besonderen Art. Abgeschlagen wird unter anderem auf Schachtdeckeln, statt einzulochen gilt es, Ziele wie Abfalleimer zu treffen. Wir haben’s ausprobiert.
Die Chefs von Rocket Film spielen gelegentlich Golf. Aber nicht dem Klischee entsprechend auf angesehenen Plätzen in illustren Kreisen, um Businesskontakte zu pflegen und zwischen Loch 1 und 18 womöglich Aufträge an Land zu ziehen. Christopher Novak und Ricardo Colarcucio gehen schlicht Bälle abschlagen. «Ein bisschen Dampf ablassen», wie sie sagen. Christopher, 49, ist zwar Mitglied eines regulären Clubs, nach seinem Handicap gefragt, antwortet der gebürtige Deutsche aber: «Lausig. » Er spiele nur selten eine Runde und habe noch nie an einem Turnier teilgenommen. Ricardo, 37, besitzt derweil nicht einmal die Platzreife. Der begeisterte Angler hatte sich einst geschworen, nie in seinem Leben einen Golfschläger in die Hand zu nehmen – bis ihn Anglerkollege Christopher vor ungefähr drei Jahren doch dazu überredete und er nach dem ersten schönen «Plopp» eines gelungenen Schlags regelmässig auf die Driving Range zurückkehrte. Kurzum, die beiden Mitinhaber einer Zürcher Filmproduktionsfirma mit namhaften Auftraggebern wie Ricola, McDonald’s und Swisscom sind keine konventionellen Golfer. Und damit die perfekten Kandidaten, um eine unkonventionelle Spielart des Traditionssports auszuprobieren: Urban Golf.
Die Stadt Zürich hat diesbezüglich ein Pilotprojekt am Laufen. Seit Mitte Juni und noch bis Ende Oktober 2022 können Interessierte unter der Woche jeweils ab 16.30 und an den Wochenenden ab 10 Uhr im Sportzentrum Josef im Kreis 5 kostenlos eine rudimentäre Golfausrüstung ausleihen, um einen Asphalt-, Beton- und Parkwiesen- Parcours zu bespielen. Vorkenntnisse braucht es dazu nicht. Die Abschlagpositionen und die Ziele sind auf einem mitgereichten Plan (und ein wenig detaillierter auf der Website) ersichtlich, die Spielregeln denkbar einfach: Der Ball soll mit möglichst wenig Schlägen von einer bestimmten Position aus einen definierten Posten erreichen. Jeder Schlag zählt als Punkt. Nach zehn misslungenen Versuchen ist auf der Scorekarte eine 11 einzutragen. Für besonders gelungene Treffer gibt’s einen Punkt Abzug – zum Beispiel, wenn der als Ziel definierte Abfalleimer nicht bloss seitlich, sondern am Deckel getroffen wird oder der Ball im Brunnen statt am Brunnenrand landet. Wer die neun quer über das Escher-Wyss-Quartier verteilten Golfbahnen mit den wenigsten Schlägen respektive Punkten absolviert, gewinnt.
Ob das Spielen auf öffentlichem Grund nicht gefährlich ist? Christopher und Ricardo sind zunächst skeptisch, als sie sich an einem Freitag im August im Sportzentrum Josef zum Urban Golf anmelden. Doch Ralph König, Leiter der Abteilung Schulsport beim Sportamt Zürich und Mitverantwortlicher für das Projekt, winkt ab. Nebst zwei 7er-Eisen und einem «Bäseli» als Abschlaghilfe reicht er den Jungs Bälle aus Plastikschaumstoff, die deutlich leichter und weicher sind als die herkömmlichen Golfbälle. Dazu gibt’s eine kleine Kunstrasenmatte, um die städtischen Grünflächen zu schonen, sowie eine Liste von Verhaltensregeln zur Unfallverhütung und zur Rücksichtnahme auf das gesamte Umfeld. Notfalls sei eine stark frequentierte Bahn auch mal auszulassen, betont König, versichert aber, dass sich die meisten Personen verständnisvoll zeigten, wenn man sie bitte, sich für einige Minuten ausserhalb der Schusslinie zu begeben. «Das ist sogar Teil des Spasses», sagt er, denn so komme es immer wieder zu lustigen Begegnungen und Gesprächen zwischen Urban Golfern, Passanten und Anwohnern. Unfälle oder negatives Feedback seien bisher nicht gemeldet worden, man habe lediglich ein paar Bahnen sperren müssen, die unglücklicherweise über Privatgrund verlaufen waren oder bei Anwohnern Sicherheitsbedenken ausgelöst hatten. Diese Bahnen wurden umgehend durch andere ersetzt. «Das Wichtigste ist für uns, dass dieser Sport quartierverträglich ist», so König.
Nichtsdestotrotz ist es ein Segen, dass sich das Sommerwetter an jenem Tag von seiner trüben Seite zeigt und die öffentlichen Plätze im ehemaligen Industriegebiet nicht von Heerscharen von Kindern, Hunden und Feierabendpläuschlern belagert werden. Den Parcours zu meistern, erweist sich auch so als Herausforderung – angefangen bei der Suche nach den im Plan beschriebenen Abschlagstellen («Das Ganze erinnert mich an eine Schnitzeljagd», meint Christopher) über die Unberechenbarkeit des rollenden Balls, nachdem er auf unebenem Asphalt, Kopfsteinpflaster oder Betonplatten gelandet ist, bis hin zu überraschenden Hindernissen wie einer mitten in der Bahn abgestellten Baumaschine. Nicht eben hilfreich ist es da, wenn der eine den anderen scherzhaft anpöbelt oder mit übertrieben enthusiastischen Anfeuerungsrufen ablenkt, während dieser sich etwa im Pfingstweid-Park auf seine Übungsschwünge über einem Schachtdeckel konzentriert, auf der Gleisbogenbrücke einen 31 Meter entfernten Brunnen anpeilt oder versucht, an einer stark abfallenden Passage am Viadukt-Übergang einen Abfalleimer zu treffen. «Nicht reden, Christopher», nörgelt Ricardo immer mal wieder, worauf Christopher verstummt – für ungefähr fünf Sekunden. Man merkt, dass die beiden nicht nur Arbeitspartner, sondern langjährige Freunde sind.
Was als lockere Mal-schauen-wie-es-sich-mitten-in-der- Stadt-so-golft-Partie ohne Anspruch auf vollständige Absolvierung des Parcours beginnt, entwickelt sich bald zum ehrgeizigen Spiel. Auf der Driving Range schlägt jeder für sich ab, hier stehen sich Christopher und Ricardo erstmals beim Golfen als Rivalen gegenüber. «Wenn schon, denn schon», findet Ricardo, als er seinen mitgebrachten Golfhandschuh anzieht, um an der Ecke Technoparkstrasse nach drei Punkten Rückstand zum buchstäblichen Gegenschlag auszuholen. Plopp, den Betonsockel des Turbinen-Kunstwerks trifft er nach zwei Anläufen – das sind drei weniger, als Christopher benötigt, und gemäss Scorekarte eins unter Par. Überhaupt fällt es den beiden Hobbygolfern nicht schwer, bei den meisten Bahnen unter Par zu bleiben. «Aber so ganz ohne Vorkenntnisse würde ich mich eher nicht auf diesen Parcours wagen», meint Ricardo, und Christopher pflichtet ihm bei: «Mit einem 7er-Eisen kommt man theoretisch über 100 Meter weit, da sollte man zumindest eine Ahnung davon haben, wie man den Ball in die richtige Richtung lenkt. Sonst kann es auch mit einem sehr weichen Exemplar gefährlich werden.» Erfahrenen Spielern würden die beiden wiederum davon abraten, ihre eigenen Schläger mitzunehmen: Das Spielen auf harten Böden beansprucht das Material überdurchschnittlich, wie auch die diversen Gebrauchsspuren der geliehenen Schläger zeigen.
Als sich der Himmel im Laufe des Spätnachmittags aufhellt, werden die Plätze zunehmend frequentiert. Da und dort sind sich die Urban-Golf-Frischlinge unsicher, ob Passanten durch einen Fehlschuss gefährdet werden könnten. «In einem solchen Fall ‹Fore› zu rufen, macht ja wenig Sinn», meint Christopher lachend. «Hier weiss ja niemand, was das bedeutet.» Besser also, man nimmt den Fussweg von rund 100 Metern auf sich, um den einen oder anderen Parkbankbenutzer zu bitten, das Feld zu räumen, und tatsächlich sind die Reaktionen darauf durchwegs positiv. Auf dem Turbinenplatz hinter dem Schauspielhaus Schiffbau lockt das Golfschauspiel gar Zuschauer an – darunter eine blonde Frau, die sich als Heidi vorstellt. Heidi aus dem Zürcher Oberland, die selber in einem Club Golf spielt und unbedingt auch mal versuchen möchte, von einem Schachtdeckel aus einen 39 Meter entfernten Abfalleimer zu treffen. Ihr Handicap mag sie nicht verraten, aber ihr Schwung zeugt von Erfahrung. «Nice!», kommentieren die Jungs ihren Schlag, der den Ball in unmittelbarer Nähe des Ziels aufprallen lässt, ehe ihn der wellige Bodenbelag wieder in eine ungeahnte Richtung rollen lässt. Heidi hat trotzdem Spass, sie kann sich gut vorstellen, auch einmal eine Runde Urban Golf zu spielen.
Beim Sportamt Zürich ist man indes überrascht, wie gut das Angebot ankommt. Gemäss Ralph König melden sich im Schnitt 16 Personen pro Tag an – mehr als ursprünglich erwartet. Ob daraus wie schon in vielen anderen Städten der Welt ein permanenter Urban-Golf- Parcours resultiert, steht zwar noch in den Sternen. «Das entscheidet sich erst nach der Auswertung des Projekts im Spätherbst», so König. Sollte die Stadt Zürich nach dem Vorbild von Winterthur und Chur im nächsten Sommer aber tatsächlich mit einem fixen Urban-Golf-Parcours aufwarten, würde es das Spielen im öffentlichen Raum aber gewiss erleichtern: Nebst einem Plan gäbe es dann deutlich ersichtliche Markierungen beim Startpunkt und beim Ziel einer jeden Bahn – die Schnitzeljagd hätte damit ein Ende und die Urban Golfer könnten sich mehr auf das eigentliche Spiel konzentrieren. Nicht weit suchen müssen Christopher und Ricardo nach dem 19. respektive in diesem Fall 10. Loch – das Escher- Wyss-Quartier bietet an jeder Ecke die Möglichkeit, einzukehren und auf den Sieger anzustossen. Gewonnen hat in diesem Fall Ricardo mit insgesamt 31 Punkten und somit sechs Punkten weniger als sein Rivale. «Du hast da ein paar echt schöne Schläge draufgehabt», lobt ihn Christopher, jetzt wieder sein Freund und Arbeitspartner, «aber nächstes Mal gehen wir vielleicht doch wieder nebeneinander Bälle abschlagen.»
Urban Golf in Zürich
Urban Golf, je nach Terrain und Definition auch Crossgolf, Streetgolf oder X-Golf genannt, unterscheidet sich vom klassischen Golf zunächst darin, dass abseits der üblichen Golfplätze gespielt wird – unter anderem auf Trottoirs, Brücken, Treppen oder in Parkanlagen. Gezielt wird nicht auf Löcher, sondern auf definierte Elemente wie Abfalleimer, Brunnen oder Strassenlaternen. Um Gefahren vorzubeugen, gilt es einen Verhaltenskodex einzuhalten, gespielt wird ausserdem mit einem weicheren Ball.
Im Rahmen eines Pilotprojekts testet die Stadt Zürich noch bis Ende Oktober 2022 ein entsprechendes Angebot. Dazu ist einzig eine Anmeldung im Sportzentrum Josef notwendig. Danach steht Spielerinnen und Spielern kostenlos ein Parcours mit insgesamt neun Bahnen zur Verfügung – inklusive Equipment gegen Abgabe eines Ausweises als Depot. Die Chancen stehen gut, dass es sich auch 2023 wieder inmitten des trendigen Escher-Wyss-Quartiers golfen lässt: Die Resonanzen waren gemäss Sportamt Zürich bisher positiv.