Für Alice Cooper ist Golf nicht bloss ein netter Ausgleich zu seinen Grusel-Shows auf der Bühne. Das Spiel habe ihm einst das Leben gerettet, beteuert der 76-Jährige. Und es hält ihn bis heute fit.
TEXT: NINA TREML | FOTOS: GETTY IMAGES
Die Dunkelheit ist noch nicht hereingebrochen, als um Punkt 20 Uhr das Grauen beginnt. Fröhlich scheint die Sonne auf den von Bergen umrahmten, glitzernden See herab, während auf der davor errichteten Bühne Zombies und Apokalypsen heraufbeschworen, Zwangsjacken festgezurrt, Würgeschlangen um den Hals gelegt und Guillotinen in Position gebracht werden. Irgendwie unpassend. Doch der Show tut das keinen Abbruch. Alice Cooper, seines Zeichens «Godfather of Shock Rock», präsentiert sich am 8. Juli 2024 auf der Scène du Lac am 58. Montreux Jazz Festival genauso, wie man es von ihm erwartet: als grossartigen Entertainer mit einer grossartigen Band und einigen grossartigen Hits von «School’s Out» über «Under My Wheels» bis hin zu «Poison».
Früher, in den 1970er-Jahren, galt der Mann, der mit einem weiblichen Vornamen, schwarzer Schminke um die Augen und kunstblutverschmiertem Mund auftritt, als Inbegriff des Bösen. Seine Konzerte wurden von Protesten begleitet, von Eltern gefürchtet, von Kritikern als geschmacklos bewertet und von Behörden erst ab 18 Jahren freigegeben. «Es war damals einfach, das Publikum zu schockieren», so Alice Cooper, der als Wegbereiter für Musiker und Bands wie Ozzy Osbourne, Kiss, Marilyn Manson und Lordi gilt. Heute schockiert die Leute vor allem eines: Wie schafft er es nur, mit 76 Jahren noch immer so viel Energie auf der Bühne zu haben?
Die Antwort liegt möglicherweise auf dem Golfplatz. Seit über 40 Jahren schwingt Alice Cooper sechsmal die Woche seine Schläger, vorzugsweise noch vor Sonnenaufgang. Und zwar nicht nur auf seinem Heimplatz in der Nähe von Phoenix, Arizona, sondern auch bei seinen Tourstopps. Auf der ganzen Welt finden sich Golfclubs, die sich über einen Spontanbesuch des legendären Rockstars freuen durften. Und praktisch alle vermelden, dass der «No More Mr. Nice Guy»-Sänger auf dem Platz ein ausgesprochener «Nice Guy» sei – ohne Schminke und ohne Allüren. «Was für ein unglaublich herzlicher, freundlicher und bodenständiger Mensch! Und dazu noch ein guter Golfer», schwärmte etwa ein Mitglied des Halifax Country Club, als ihm der langhaarige Promi auf dem Grün begegnete.
Auch Swiss Golf Bubikon im Zürcher Oberland hatte vor zwei Jahren das Vergnügen. Bevor er am Abend das «Rock am Ring»-Festival in Hinwil rockte, spielte Cooper hier eine gepflegte 9-Loch-Runde – Birdie an Loch 8 inklusive. «Very tricky and difficult to play», soll er den Platz gefunden, sich aber bestens amüsiert haben. «Die Begegnung war sehr freundlich und respektvoll – das pure Gegenteil von dem, wie man ihn auf der Bühne erlebt », erinnert sich Denja Künzi aus der Geschäftsleitung.
Wie passen Alice Cooper, der freundliche Golfer, und Alice Cooper, der böse Schock-Rocker, demnach zusammen? Für ihn wäre Golf nicht brutal genug, sagte er einmal über seine Bühnenfigur, er würde mit dem Golf- Cart auf Kollisionskurs gehen oder direkt seine Gegner mit dem Driver strangulieren. Aber Alice Cooper sei nur eine Rolle, die mit ihm als Person wenig zu tun habe, beteuerte er. Privat lebt der 1948 mit dem bürgerlichen Namen Vincent Damon Furnier geborene Amerikaner nach eigenen Angaben das Leben eines treuen Ehemanns – er ist seit 1976 mit der Tänzerin Sheryl Goddard verheiratet –, engagierten Vaters dreier Kinder und vor allem gläubigen Christen. Sein Grossvater war Wanderprediger, sein Vater Priester, das färbte ab. Und erklärt, weshalb er «nur» sechs- statt siebenmal pro Woche Golf spielt: Die Sonntage sind für den Gottesdienst reserviert.
So sittsam und umgänglich wie heute war Alice Cooper allerdings nicht immer. Die ersten Jahrzehnte seiner 1964 mit einer Reihe von Bandprojekten gestarteten Musikerkarriere waren geprägt von Drogen- und vor allem Alkoholexzessen. Den Tag mit einem Griff zur Flasche zu beginnen, war für ihn normal. Bevor er sich überhaupt an den Frühstückstisch setzte, hatte er schon mindestens zwei Drinks intus. An die drei Alben, die er Anfang der 1980er-Jahre herausgab («Special Forces», «Zipper Catches Skin» und «DaDa»), kann er sich noch nicht einmal erinnern – in Fankreisen kennt man sie deshalb unter dem Begriff «The Blackout Albums». «Ich musste ganz unten ankommen, um zu merken, wie sehr ich in der Hand des Dämons Alkohol war», erzählte er 2009 in einem Interview. «Ich musste Blut spucken, ich musste erleben, dass sich meine Frau von mir scheiden lassen wollte.» Erst da habe er – mit Gottes Hilfe – begriffen, dass er sein Leben radikal ändern müsse. Und Gott habe ihm auch gleich etwas gegeben, um den Alkohol zu ersetzen: Golf.
Tatsächlich bezeichnet Alice Cooper das Golfspiel nicht bloss als Zeitvertrieb – er bezeichnet es als Sucht. In seinem 2008 veröffentlichten Buch «Golf Monster: A Rock’n’Roller’s 12 Steps to Becoming a Golf Addict» beschreibt er, wie er seinen Alkoholismus Ende der 1970er- Jahre in den Griff bekam, indem er eine Obsession gegen eine andere austauschte. Nebst seinen Erfahrungen als Promi-Golfer und einigen Spieltipps gibt er auch unterhaltsame Anekdoten aus 40 Jahren Rockgeschichte zum Besten und schildert Begegnungen mit Legenden wie Salvador Dalí, Elvis Presley, John Lennon, Jim Morrison und Janis Joplin. «Golf Monster» sei schonungsloser und ehrlicher als seine 1976 veröffentlichte Autobiografie «Me, Alice», kommentierte er das Buch.
41 Jahre nachdem sich Alice Cooper erstmals auf einen Golfplatz schleppte und wider Erwarten Gefallen an dem Sport fand, ist er längst nicht mehr der einzige Rockstar auf dem Grün. Wenn er nicht gerade mit Bandkollegen oder Golfgrössen wie Phil Mickelson oder John Daly abschlägt, spielt er eine Runde mit Rob Zombie, Eddie Van Halen oder Mitgliedern der Bands Bon Jovi, Meatloaf oder Metallica. «Jetzt, da der Rock’n’Roll das Spiel erobert hat, möchte ich betonen, dass ich einer der Ersten war, der es populär gemacht hat», stellte er kürzlich in einem Interview klar. Aber nicht nur als Pionier, sondern auch als Talent tat er sich in dem Spiel hervor, erreichte ein Handicap von 2, schloss einen Deal mit Golfausrüster Callaway ab und nahm an zahlreichen Pro-Am-Turnieren teil. Ans Aufhören denkt er noch lange nicht, will Golf aber nicht als Altherrensport verstanden wissen. «Was glauben Sie, warum viele der grössten Sportler dem Golf verfallen sind?», sagte er einmal gegenüber der «Bild am Sonntag». «Weil es so unglaublich schwer ist! Man ist immer auf der Suche nach Perfektion – und findet sie nie. Ausserdem: So wie ich Golf betreibe, ist Golf definitiv Rock’n’Roll.»
Apropos Rock’n’Roll, und wieder zurück nach Montreux, wo die Sonne nach einer Stunde doch noch untergegangen ist und ein scharf gezeichneter Sichelmond die Musik komplementiert: Alice Cooper beugt sich auf der Bühne vornüber, entblösst das Genick – und wird mit einem Schlag von der Guillotine enthauptet. Das Ritual ist inszeniert, der Kopf, den eine Tänzerin (übrigens seine Frau!) an den strähnigen Haaren über die Bühne schleift, natürlich nur eine Attrappe. Vielleicht hat er es erfunden, um der Show ein definitives Ende setzen und früh zu Bett gehen zu können. Am nächsten Morgen will er schliesslich wieder auf dem Golfplatz stehen, wenn möglich noch vor Sonnenaufgang.